Der Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares 2024
Neun Preisträger*innen wurden 2024 für herausragende künstlerische Leistungen in der Spielzeit 2023/2024 ausgezeichnet.
Am 5. November 2024 traf sich die Hamburger Theaterwelt im Schmidt Theater, um den Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares zu verleihen. Die Preisträger*innen 2024 sind:
Darstellung
Merlin Sandmeyer
für die Rolle des Josef K. in „Der Prozess“
Thalia Theater
Die Begründung der Jury lautet:
„Wenn die Literatur auf die Bühne gerät, ist ihre Sache meist schon verloren“, meinte unlängst ein scharfzüngiger Rezensent. Denn auf der Bühne träten die Bilder an die Stelle der Sprache. Und bedeuteten oftmals Freiheitsberaubung der beweglichen Imagination der Lesenden. Dieser Gefahr der Festlegung entzieht sich der Ausnahmeschauspieler Merlin Sandmeyer, indem er uns einen offenen Wahrnehmungs- und Deutungsraum seiner Figur des Josef K. ermöglicht. Warum scheitert jeder seiner Versuche, das Rätsel seiner Verhaftung zu lösen? Warum erträgt er als bisher erfolgreicher junger Mann die Drangsalierungen eines autoritativ-fixierten Systems fast duldsam? Sandmeyers empathische, körperlich-fragile Gestaltung beantwortet solche Fragen nicht. Er spielt den Protagonisten als zutiefst verstörten, verlorenen Beobachtenden, der ins Straucheln gerät und urplötzlich aus der Bahn geworfen wird, und nicht als Handelnden. Seine bewusst unentschiedene Darstellung gibt seiner Figur und uns Rätsel auf. Damit erhalten die Zuschauenden die Chance, sich selbst zu fragen: Wie hätte ich denn als Josef K. reagiert?
Katharina Schüttler
für die Rolle der Tessa Jane Ensler in „Prima Facie“
Hamburger Kammerspiele
Die Begründung der Jury lautet:
Der Monolog „Prima Facie“ von Suzie Miller verlangt viel von seiner Darstellerin: Über zwei Stunden trägt sie den anspruchsvollen Stoff ganz allein und muss dazu noch übergangslos in verschiedene Nebenrollen schlüpfen. In Milena Mönchs kluger und von der ersten bis zur letzten Minute spannenden Inszenierung zeigt uns Katharina Schüttler als Tessa Ensler zunächst die selbstsichere Staranwältin, die wie eine Boxerin durch Gerichtsverhandlungen „tänzelt“, antäuscht, zuschlägt und gewinnt. Im Rückblick dann die eingeschüchterte Studentin an der Elite-Law-School. Wenig später erleben wir sie als verunsichertes, gedemütigtes Opfer sexueller Gewalt und am Ende als entschlossene Kämpferin für Gerechtigkeit. Katharina Schüttler zeigt uns all diese Facetten ein und derselben Person mit einer Natürlichkeit und Souveränität, als hätte die Autorin ihr die Rolle auf den Leib geschrieben. Mit ihrem emotionalen und sehr körperlichen Spiel zieht sie das Publikum durchgehend in ihren Bann. Eine großartige schauspielerische Leistung!
Ulrich Bähnk
für die Rolle des Serge in „Serge“
Altonaer Theater
Die Begründung der Jury lautet:
Er glänzte bereits in vielen Hamburger Theatern in ganz unterschiedlichen Rollen, in Klassikern aus älteren und neuen Zeiten, Komödien und Kammerspielen, aber im Altonaer Theater setzte Ulrich Bähnk noch einen drauf: als Serge in dem gleichnamigen Stück nach dem Roman von Yasmina Reza, Bühnenfassung: Georg Münzel, der auch Regie führte. Großspurig, besserwisserisch, unverschämt provozierend und dann wehleidig wie ein hilfloses kleines Kind ist dieser Serge, nervt seine Familie auf der heiklen Reise nach Auschwitz bis zur Unerträglichkeit, zeigt dabei oft ungewollt Gefühle. Ein unsicherer, daher maßloser Egoist, der die hehren Absichten der Familienmitglieder mit Füßen tritt. Bähnk bewegt sich in allen Facetten dieser vielschichtigen Rolle mit großer Selbstverständlichkeit, fasziniert mit beeindruckendem spielerischen Können, zeigt einen Menschen glaubwürdig in seiner Vielseitigkeit. Das ist schlicht das Beste, was ein Schauspieler leisten kann.
Olivia Warburton
für die Rolle der Anne Frank in „Das Tagebuch der Anne Frank“
Opera Stabile der Hamburgischen Staatsoper
Die Begründung der Jury lautet:
Ihre Perücke nimmt Sopranistin Olivia Warburton am Ende der Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ ab, schlüpft aus der historischen Rolle in die Gegenwart und liest die an die Bühnenwand projizierten Zitate aus dem weltberühmten Buch. Kein Historienspiel sondern klares Jetzt wird Grigori Frids bewegende Oper durch ihre Darstellerin, die alle Facetten des jungen Mädchens Anne Frank zeigt und durchlebt. Unendliche Einsamkeit, tiefste Verzweiflung, größte Albernheit und Verliebtheit lotet sie in atemberaubender Sensibilität aus. Mit ein paar Requisiten erspielt Olivia Warburton gänzlich überzeugend Welten, mimt mit einer Puppe das Vater-Tochter-Verhältnis oder watschelt chaplinesk durch die Szenerie dabei das „Smile“ des großen Komikers singend. Ihre Bühne sind die vergrößerten Tagebuchseiten, darin ein begehbares Pop-Up-Buch als das Amsterdamer Haus, weiterhin die Animationen und Filmprojektionen dieser Graphic Opera. Eine intensive Stunde musikalischer, emotionaler und darstellerischer Herausforderung ist das für die britische Sängerin – aber in ihr lebt Anne Frank, lebt die Geschichte, leben Hoffnung und Grauen, lebt vor allem die Gegenwart, die Anne Franks Humanismus braucht.
Dennis Svensson
für die Rolle der Céline Dion in „James Brown trug Lockenwickler“
St. Pauli Theater
Die Begründung der Jury lautet:
Weiblich gelesene Personen in Hosenrollen, männlich gelesene in Frauenkleidern. Alles kein Novum, zum Glück kein Aufreger mehr. Dennoch sorgt Zweiteres immer noch für Lacher. Das, was Dennis Svensson in seiner Rolle in Yasmina Rezas Schauspiel „James Brown trug Lockenwickler“ verkörpert, ist mehr als nur der junge Mann mit instabiler Identität, der glaubt, er sei Céline Dion. Er imitiert deren Stimme und spielt – nein, er IST die verletzliche und gefeierte Diva. Es ist eben nicht die „fishing for Schenkelklopfer“-Verkleidung, es ist seine hingebungsvolle Darstellung schwankend zwischen Selbstbehauptung und Zerbrechlichkeit. Svensson spielt mit einer hinreißenden Selbstverständlichkeit, sodass es auch als Plädoyer für Genderfluidität, als Fürsprache für Transidentität gelesen werden darf. Es ist nicht einfach eine herausragende Performance, nicht nur die hohe Kunst der Verwandlung – es ist Svensson selbst, der seinen Auftritt zu einem politischen Statement werden lässt. Feministisch, queer und zum Niederknien. Wir verneigen uns!
Text
Roland Schimmelpfennig
für „Anthropolis“
Deutsches SchauSpielHaus Hamburg
Die Begründung der Jury lautet:
Was für eine Chuzpe, die bekanntesten Mythen der europäischen Zivilisationsgeschichte mit der Gründung und dem Fall der Stadt Theben nochmals wie neu zu erzählen versuchen! Und diverse antike Texte von Sophokles, Euripides bis zu Aischylos mit eigenen als Showstoff zu einem fünfteiligen Sequel für die Bühne zu verdichten! Es hätte schlimm ausgehen können: als trockener Bildungsstoff oder als leerlaufendes Spektakel. Es geriet aber zur Theatersensation des Jahres! Neben der Gesamtleistung aller Mitwirkenden ist es vor allem dem Autor Roland Schimmelpfennig zu verdanken, dass diese dystopische Menschheitsgeschichte uns immer noch berührt. Seine Sprache ist poetisch, salopp, semidramatisch, nahezu episch. In Monologen, Dialogen, Chören, in narrativer und reflexiver Rede spiegeln sich Grauen und Komik wider, grotesk unterhaltsam. Im Buch „Anthropolis“ findet sich als Quintessenz des Gesamtstoffes ein Nachtrag des Autors zu Ödipus, „Haus der Dunkelheit“: Eine Frau mit einer Ziege berichtet über ein letales Würfelspiel zwischen einem Mann und seinem Ziegenbock (mit dabei ein Hund) irgendwo in den griechischen Bergen – vor dem Hintergrund einer Radiosendung über das Orakel von Delphi und Ödipus. Inhalt und Tonfall könnten lakonischer, grausamer, aktueller nicht sein.
Regie
Inken Rahardt
für „Fußballoper“
Opernloft
Die Begründung der Jury lautet:
Anpfiff statt Ouvertüre, Kunstrasen statt Bühnenbretter – die Heim-EM macht’s möglich und das Opernloft verwandelt die Transfersumme der Stiftung „Fußball und Kultur – EURO 2024“ gekonnt: Die „Fußballoper“ bietet die gelungene Verschwisterung zweier Kulturphänomene oder besser, die perfekte Doppelspitze von Ballsport und Oper, dem Kraftwerk der Gefühle. Inken Rahardt hat den Neunzigminüter mitsamt Halb- und Nachspielzeit so lustvoll wie gescheit arrangiert und inszeniert. Chorszenen aus Stadien finden sich mit den Opernsängen in zauberhaften Doppelpässen vereint, als Ball berückt die Sopranistin Aline Lettow. Der ganz große Schmalz der Oper gibt dem Spiel den Pfiff und kein Fußballthema und -Klischee bleibt unangespielt, versteht sich ohne jedes gesprochene Wort. Ein Hauch von Schlager und Pop kommt klingend aus der Tiefe des Raumes, den die Ensemblemannschaft so souverän wie spielfreudig beherrscht. Das ganze Haus tobt fähnchenschwingend, bemalt und singend. Inken Rahardts Klangmatch entzückt auch all diejenigen, denen die Wege, auf denen das Runde ins Eckige findet, nicht alles in der Welt bedeuten. Oh Fortuna – locker hingeschlenzt und volley unter der Latte platziert, Volltreffer für Inken Rahardt und ihr Opernloft-Team.
Bühne/Regie
Yvonne Marcour (Bühnenbild und Kostüme) und Ingo Putz (Regie)
für „De Schimmelrieder“
Ohnsorg Studio
Die Begründung der Jury lautet:
Mit Eintritt in den kleinen Theaterraum ist man sofort umgeben von Düsternis, Wasser und Sandsäcken. Es ist kein Ort, der zum Aufenthalt einlädt und man ahnt, dass das Leben hier entbehrungsreich ist und kaum Gemütlichkeit bieten kann. Aber dann sind Bühnenbild und Kostüme von Yvonne Marcour so wandlungsfähig, dass die drei großartigen Schauspieler*innen mit wenigen Requisiten die Menschen, die Handlung und die Landschaft zum Leben erwecken und es entstehen sogar ganz warme, zu Herzen gehende Szenen. Ingo Putz hat sich sensibel und klug der Novelle mit Dialogen auf Plattdeutsch und der Erzählung auf Hochdeutsch genähert. Dabei entstehen auch Bezüge zur Gegenwart, aber er erliegt nicht der Versuchung, dies zu betonen, sondern bleibt schnörkellos bei der Novelle und gerade mit dieser Einheit zwischen Bühne und Inszenierung entsteht ein fesselndes, eindringliches Bühnenstück, dem die Besucher fast atemlos bis zum Ende folgen. Ein Abend, der bewegt und uns so schnell nicht loslässt.