Im Fokus der Theaterpreis-Jury

Februar 2023

Im November wurde der Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares für herausragende Leistungen in der Spielzeit 2021/2022 verliehen. Für die aktuelle Spielzeit ist unsere Theaterpreis-Jury, bestehend aus Dr. Inge Volk, Jan Peter Gehrckens, Patrick Giese, Christian Hanke, Gunter Mieruch, Maike Schäfer und Elke Westphal, schon wieder fleißig in den Häusern der Stadt unterwegs und auf der Suche nach den nächsten Preisträger*innen. Aktuell befinden sich die folgenden Stücke auf der Shortlist. Das ein oder andere könnt ihr auch noch erleben …

 

Die Dreigroschenoper im St. Pauli Theater

Die Dreigroschenoper © Kerstin Schomburg

Die Geschichte des Kampfes zweier nicht ganz seriöser Geschäftsleute, des Bettlerclan-Königs Peachum und des Einbrecher-Königs Macheath, genannt Mackie Messer, bei der Uraufführung 1928 als „Stück mit Musik“ annonciert, war im Grunde das erste deutschsprachige Musical. Bertolt Brecht schrieb den Text zusammen mit Elisabeth Hauptmann, Kurt Weill komponierte dazu die unsterbliche Musik. Damit gelang den dreien ein legendärer Welterfolg.

In der Neufassung des St. Pauli Theaters durch Peter Jordan und Leonhard Koppelmann werden die Songs in ihrer ganzen Wucht wieder nach vorne geschoben, sie werden das heimliche Zentrum der Neuinterpretation sein. Und wenn man sich umschaut, nicht nur in der kleinen Welt des Kiezes, sondern auch in der großen Welt der Politik, muss man feststellen, dass sich so viel nicht verändert hat, seit Brechts Analyse.

 

Macbeth im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg

Macbeth © Lalo Jodlbauer 

Macbeth ist ein loyaler schottischer Feldherr, der sich für seinen König in jede Schlacht wirft. Niemals käme er auf die Idee, selber der Erste sein zu müssen, wären da nicht Stimmen, die ihm genau diesen Gedanken einflüstern. Oder sind diese Stimmen – „fair is foul and foul is fair“ – seine eigenen? Macbeth verlernt zu unterscheiden: Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit, gut und böse. In seinem späten, dem „schottischen Stück“, erzählt Shakespeare von angstgesteuertem Machtstreben und Machterhalt um jeden Preis. Die Konsequenzen sind Mord, Verderben, Paranoia, Einsamkeit. Der schreckhafte Macbeth wird selbst zum größten Schreckgespenst.

Nach ihrer viel beachteten Inszenierung Richard the Kid & the King, die weiterhin im Repertoire zu sehen ist, widmet sich Karin Henkel Shakespeares anderem exemplarischen Monster.

 

Der Sandmann im Thalia Theater

Der Sandmann © Emma Szabó

Ein großer Festsaal mit einem langen, üppig gedeckten Buffet, Blumenschmuck, einer Bühne für die Tanzkapelle und vielen leeren Stühlen, die – wie der einzige Kellner – auf die Gäste warten. Wer hat eingeladen und wer sind die Geladenen? Zu welcher Feierlichkeit kommt man hier zusammen? Ist es ein Bankett? Ein Familienfest? Eine Verlobung? Eine Trauerfeier? Eine Beschwörung der Geister?

„Der Sandmann“, E.T.A. Hoffmanns berühmtes Meisterwerk zwischen schwarzromantischem Schauermärchen und handfestem Albtraum bildet das Herzstück seiner Nachtstücke. In der Neuschöpfung, die der Theatermagier und Präzisionskünstler Robert Wilson zusammen mit der grandiosen britischen Singer-Songwriterin Anna Calvi kreiert hat, wird Hoffmanns Erzählung zu einer „Dark Opera“, die sich aufmacht, der Nachtseite des Mondes und der Seele einen betörend verstörenden Besuch abzustatten. Die Traumlogik beherrscht die musikalische Séance. Wie ein Vexierbild lässt sie verschiedene Realitäten und Zeitebenen ineinanderfallen und sich überblenden. Ein Trauma aus der Kindheit kehrt zurück. Und eine veritable Retraumatisierung bringt ganz real das Leben aller Beteiligten aus den Fugen.

 

The Wanderers im Ernst Deutsch Theater

The Wanderers © Oliver Fantitsch

Schmuli und Esther sind beide in einem orthodoxen jüdischen Elternhaus aufgewachsen, ihre Hochzeit ist arrangiert, ihr Leben vorbestimmt. Sie sind strikt eingebunden in der ebenso fürsorglichen wie starren Welt ihrer Glaubensgemeinschaft. Abe und Sophie leben selbstbestimmt und weltoffen, der jüdische Glaube spielt in ihrem Leben vermeintlich nur eine marginale Rolle. Unterschiedliche Prägungen werden deutlich, aber alle Figuren verbindet der Versuch, eine tragfähige Verbindung zwischen Kindheitserfahrungen, Bestimmungen und aktuellen Lebenswünschen zu finden.

Anna Ziegler gelingt mit The Wanderers ein einfühlsamer Einblick in die ganze Bandbreite und Problematik jüdischer Lebensentwürfe in unserer heutigen Gesellschaft. Aktuell stehen wir in Hamburg in einem Prozess, jüdisches Leben in unserer Stadtgesellschaft stärker sichtbar und erfahrbar zu machen. Gleichzeitig stellen wir uns dem Antisemitismus entgegen und der wachsenden Bedrohung der jüdischen Gemeinden, ihrer Orte und Institutionen. Wichtig scheint uns, mit den Menschen über jüdisches Leben ins Gespräch zu kommen, denn wir wissen darüber viel zu wenig. Das kann dazu führen, dass Vorurteile und Klischees weitergetragen werden. Wir wünschen uns mehr Verständnis und möchten mit unserer Theaterarbeit zur Auseinandersetzung mit jüdischem
Leben beitragen.

 

Hedda Gabler in den Hamburger Kammerspielen 

Hedda Gabler © Anatol Kotte

Hedda langweilt sich. Sehr. Mit Schießübungen vertreibt sie sich die Zeit. Die Waffen hat sie von ihrem Vater geerbt. Die scharfe Munition auch. Heddas frischgebackener Ehemann Jörgen Tesman vermag Heddas Langeweile nicht zu vertreiben. Immerhin besteht bei ihm Aussicht auf eine wohldotierte Stelle als Professor. Ein gutes, bürgerliches Leben könnte es sein. Doch da taucht ein alter Bekannter auf: Eilert Lövborg, ein geistreicher und inspirierender, wenn auch erfolgloser, Autor. Dieser ist Tesman nicht nur an Charisma deutlich überlegen, er konkurriert plötzlich sogar mit ihm um die Professur.

Hedda und Eilert verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. Sie fühlten sich einmal sehr zueinander hingezogen. Aber Eilert kommt diesmal nicht allein. Frau Elvstedt, seine treue Mitarbeiterin und ergebene Helferin in der Not, weicht nicht von seiner Seite. Frühere Konflikte und alte Verletzungen gelangen wieder an die Oberfläche. Alte Leidenschaften und neue Feindseligkeiten brechen sich Bahn.

 

Altes Land im Ohnsorg Studio

Altes Land © Sinje Hasheider 

Zwei Frauen mit einem bewegten Leben, beide auf der Flucht und auf der Suche nach einem Zuhause, einer Familie: Vera Eckhoff floh als kleines Mädchen mit ihrer Mutter zu Fuß aus Ostpreußen. Sie strandeten auf einem Hof im Alten Land, wo sie wenig willkommen waren. Zwischen Apfel- und Kirschbäumen, bei rauem Klima und inmitten misstrauischer Dorfbewohner arbeiteten Mutter und Tochter hart auf dem alten Hof südlich der Elbe. Als ihre Mutter sie irgendwann für ein besseres Leben in Hamburg verließ, blieb Vera allein zurück in ihrem neuen Zuhause, das ihr immer fremd bleiben sollte. Nach vielen Jahren stehen plötzlich wieder zwei Flüchtlinge vor der Tür des alten Reetdachhauses: Veras Nichte Anne mit ihrem kleinen Sohn Leon, die das Leben in Hamburg-Ottensen hinter sich lassen wollen oder auch müssen.

 

Faust im Allee Theater – Hamburger Kammeroper 

Faust © Dr. Joachim Flügel 

Verzweifelt über seine fehlenden Talente beschließt Faust, seinem Leben ein Ende zu machen. Faust erinnert sich in seiner Studierstube an die letzte Instanz, die ihm helfen könnte: Die Hölle. Mephisto, von Faust beschworen, nähert sich und verspricht Jugend und Liebe gegen den Preis der Seele. Faust zögert. Da zeigt ihm der Teufel das Bild der schönen Margarethe und Faust willigt ein. Valentin, Margarethes Bruder, nimmt Abschied von seinen Freunden, denn er muss ins Feld. Er übergibt Margarethe dem Schutz Siebels, der die Schwester des Freundes schüchtern liebt. Doch Siebel ist machtlos gegen das Böse. Kaum hat Faust Margarethe mit Hilfe Mephistos verführt, wird er ihrer überdrüssig. Margarethe bringt ein uneheliches Kind zur Welt. Valentin, der aus dem Krieg zurückgekehrt ist, fordert Faust zum Duell und wird von ihm getötet. Sterbend verflucht Valentin seine Schwester. Margarethe wartet im Kerker auf ihre Hinrichtung. Wahnsinnig vor Schmerz hat sie ihr Kind getötet. Mit tiefer Bewegung betrachtet Faust die Schlafende. Sie erwacht und umarmt ihn, durchbebt von der Erinnerung an ihre erste Begegnung. Mephisto drängt auf rasche Flucht, doch Margarethe weicht bei seinem Anblick schaudernd zurück. Faust versucht, sie mitzunehmen, doch sie entzieht sich seinem Zugriff. Die Verwerfungen zwischen Leben und Tod, Liebe und Verachtung, lustvollem Leben und tragischem Leid, Himmel und Hölle treffen hier bildgewaltig aufeinander, zeitlos uns bewegend.

Blickpunkte